Yumiko oder Through the Looking-Glass, and What I Found There

März 20, 2011 um 6:56 pm | Veröffentlicht in Berlin, Drumherum und anderswo, Kalenderblätter, Mitmensch - unbekanntes Wesen, Real-Poetisches, Real-Politisches, So Momente halt... | 6 Kommentare
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„Nagaki yo ya
omou koto iu
mizu no oto.“

So lang die Nacht, ach,
Und, was ich denke, sagt nur
Des Wassers Rauschen.

(Japanisches Haiku, v. Gochiku)

ochbetrieb. Die Hütte ist voll.
So ist es immer am Montagmorgen vor Neun. Alle Hände werden gebraucht. Sie fliegen über die Tastaturen und die sechs Computer glühen. Stimmengewirr. Scherzen, Schimpfen, Ungeduld. Und tausend Fragen der Studenten in der letzten Viertelstunde vor Kursbeginn. Alle Welt trifft sich im Schulbüro am Montagmorgen. Die ganze Welt.

Eine schmale Mädchenhand. Sie schiebt mir ein Foto über den Tisch: sanfte Mandelaugen unter einem dunklen Fransenpony, langes Haar von der Farbe des Sommernachtshimmels.

Das Foto wird auf ihrem Zeugnis kleben, Deutsch-Zertifikat, Stufe B2.

Sie lächelt, als ich ihr Glück für die Prüfung wünsche.

Die Mandelaugen lächeln nicht.
Sie sind wie der glatte Spiegel eines schwarzen Sees. Doch in der Tiefe lodert Schmerz, tost eine Welle, die Häuser und Menschen und Dinge mit sich reißt. Schmelzen Atome, deren Strahlung Leben auslöscht und aus Städten Wüsten macht.

Unsere Hände berühren sich und unsere Blicke treffen sich für den Moment einer Ewigkeit. In der es still wird um uns. – Wo sind deine Lieben, Mädchen?

Sie heißt Yumiko.

*
***
*****

Abends auf dem Heimweg überschlägt sich der sonst Lieblingssender im Autoradio mit neuen Katstrophenmeldungen. Schneller, größer, schlimmer. Und die Moderatoren verströmen ihre Auffassung von Feierabendunterhaltung mit hirnlosen Bonmots über ein Volk von Hightech-Japanern, das gestern noch Roboter als Hausangestellte hatte und heute an Steinzeitfeuerstellen kocht. Labern merkbefreit mit EXPERTEN darüber, was für ein Riesenschwein wir doch haben, dass „DAS DORT“ „UNS HIER“ wohl nicht erwischen wird. Nicht sehr. Nur die Andern. Am andern Ende der Welt. Und GottundderZoll schütze uns vor verstrahlten japanischen Lebensmitteln! Amen.

Was ist das? Zynismus oder nur Dummheit? Oder vielleicht das Pfeifen im dunklen Wald?

Ich bin wütend und mir ist kotzübel. Ich schalte das Radio aus und möchte schreien. He Leute, kriegt ihr noch was mit??!! Wie nah ist euch der Nebenuns? Und wo ist das Ende der Welt? Die ist ein verdammtes Narrenschiff, aber es ist die einzige, die wir haben!

Ich denke an Yumiko…

…und an der roten Ampel am Frankfurter Tor falten die vergessenen Finger in Gedanken aus dem Blatt Zigarettenpapier einen Kranich.

Video: Reinhard Mey: Die Mauern meiner Zeit. Aus dem Album: Mit Lust und Liebe (1991). Via Noeki auf youtube.

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